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Jochen Timmermann / Thomas Loew Kinder- Jugend- und Familienpsychosomatik „Sag mir, wo die Kinder sind“: Ein Plädoyer für eine integrierte Familienpsychosomatik 

Seit der provozierenden Umbenennung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und der Postulierung eines Behandlungsmonopols der Kinder und Jugendpsychiater in der entsprechenden Altersgruppe hat sich die Fachdiskussion endlich aus den Hinterzimmern in die Öffentlichkeit verlagert:

Definitiv unbestritten ist, dass Kinder die Zukunft unserer Gesellschaft sind, dass deren Anzahl zurückgeht, die Familienstrukturen komplizierter werden, Eltern und Lehrer mit dem gesellschaftlichen Wandel und den neuen Formen sozialer Vernetzung überfordert sind, und psychosomatische Erkrankungen häufiger und aufwendiger behandelt werden müssen:

Die Frage stellt sich nur, von wem. In Zeiten zunehmender Spezialisierung finden sich hier natürlich auch schnell Experten: Das Problem dabei ist aber, bei allem Enthusiasmus, dass von den knapp 1.000 Kinderpsychiatern in Deutschland – davon 616 in Kassenpraxen und 118 Ambulanzen (1) mit den 16 Millionen Kindern und Jugendlichen in unserem Land bei einer sinnvollen Behandlungskapazität von etwa 35 Psychotherapiestunden pro Woche und einem sinnvollen Zeitaufwand von wenigstens im Mittel 20 Stunden pro Fall (mit etwas Verlust 100 kleine Patienten pro Jahr und einer Gesamtbehandlungskapazität von hochgerechnet 62.000 pro Jahr) – bezogen auf die kritischen Alterszeitfenster von etwa 10 Jahren erreicht werden können. Der Tropfen verdampft, bildlich gesprochen, ehe er den Stein erreicht.

Auch die „Klimaanlage“ Institutsambulanzen der stationären Kinder-und Jugendpsychiatrien (etwa 120 Einrichtungen bundesweit mit etwa 300 Fachärzten und etwa ebenso vielen Weiterbildungsassistenten) werden – trotz aller struktureller Effizienz, die Versorgungsquote höchstens verdoppeln. Berücksichtigen wir die nicht-ärztlichen ambulant tätigen Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeuten (2) sind wir formal bei einer beruhigend scheinenden Versorgungsquote von 20%, vorausgesetzt, die niedergelassenen Kollegen würden ihren Sicherstellungsauftrag erfüllen; Aufgemerkt: Wir leisten / gönnen uns in unserem hochzivilisierten, reichen Land 2! Stunden Psychotherapieleistung pro psychisch oder psychosomatisch krankem Kind pro Jahr.

Gut dass es da die Kinder- und Jugendärzte gibt, zumindest 800 von ihnen sind auch Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder verfügen über die Zusatzbezeichnung Psychotherapie (3) und helfen dabei, aus der Not zumindest den Hauch einer Tugend zu machen.

Die psychologischen Psychotherapeuten haben für die Zukunft in diesem Kontext eine klare Position: Die verklammerte Ausbildung. Jeder sollte in seiner Ausbildung lernen, wie Kinder und Erwachsene im vertieften Verfahren psychotherapiert werden! Und das sollten wir Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (PSM) auch. Denn unbestritten ist ebenso, dass belastete Kindheit, und damit ist nicht nur die hochbelastete gemeint (4,5) psychosomatische Krankheit befördert. Das Bindungsverhalten und bindungsorientierte Therapie – und zwar so früh wie möglich, am besten im Familienkontext – stellen ideale Behandlungsansätze dar. (6-8)

IN DER ZUSAMMENSCHAU:

  • Kinder und Jugendliche sind („fast“) immer Teil einer Familie

  • Die Erkrankung eines Kindes ist auch die Erkrankung der Familie

  • Das Kind ist Symptomträger der Familie

Die Trennung zwischen der Kinderzeit und dem Erwachsenenalter vor dem Hintergrund der biopsychosozialen Entwicklung ist willkürlich. Der 18. Geburtstag ist juristisch eine Zäsur, d. h. viele junge Erwachsene leben in dieser Schwellsituation noch in Abhängigkeit, Ausbildung, also in der Zusammenschau psychosozial noch nicht vollständig entwickelt. Umgekehrt gibt es Kinder, die – bedingt durch ihre familiäre Situation – zu früh Selbstverantwortlichkeit erleben und Notreife müssen. Es gibt also erwachsene Kinder und kindliche Erwachsene.

Praktisch holen wir den Patienten in dem psychosozialen Alter ab, in welchem wir ihn wahrnehmen, müssen ihn aber gleichzeitig seinem formalen Alter gemäß behandeln.

Hinter jedem erkrankten Menschen (Kinder, Jugendliche, Senioren) steht (fast) immer ein Partner/ Partnerin, Kinder, Eltern – eine Familie, die häufig auch miterkrankt. Nicht umsonst sind die Kinder psychisch kranker Eltern als eine besonders leidende, bedürftige, miterkrankte Gruppe erfasst worden.(9) Die Wechselwirkung zwischen den Generationen beschäftigen die Psychotherapie und Psychoanalyse von jeher. Nicht gelungene Bindungen, Parentifizierung, Schuldgefühle, sexueller Missbrauch, Gewalterfahrungen und vieles mehr sind die Themen, die wir erst im Erwachsenenalter behandeln. In der Kinder- und Jugendbehandlung stoßen wir in der frühen Entstehung auf diese Phänomene, es besteht die Chance, die frühen Reaktionen der Kinder auf pathologisches Elternverhalten aufzunehmen und letztlich präventiv zu arbeiten. Vorbeugen ist besser als heilen.

 

Der psychosoziale Status der Eltern ist ausschlaggebend für die Sozialprognose der Kinder. So sind die Kinder psychosozial belasteter alleinerziehender Mütter besonderen Risiken ausgesetzt (10, 11).

Die Kinder- und Jugendpsychosomatische / Psychotherapeutische (PSMKJ) Praxis zeigt lange, erstarrte Therapieverläufe, die erst dann wirklich in Bewegung kommen, wenn die Eltern, manchmal auch Großeltern, erkennen, dass sie die Verantwortung übernehmen können und selbst eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen.

Natürlich wird die transgenerationale Therapie in der Familie über mehrere Generationen eingesetzt, um Verantwortung und Grenzen zu realisieren. Hierzu sind unterschiedliche Settings von den Behandlern zu initiieren. Das jetzt endlich als Referentenentwurf vorliegende Präventionsgesetz zeigt, dass auch in der Politik das Bewusstsein für die transgenerationale Wirksamkeit von Gesundheitsrisiken wächst.

DIE GENERATIONSÜBERGREIFENDE-PSYCHOSOMATISCHE BEHANDLUNG

Abgesehen von genetischen und körperlichen Vorerkrankungen, können wir davon ausgehen, dass Kinder zunächst gesund sind. Die soziale Herkunft, Zeugungsumstände, Schwangerschaft und Geburt beeinträchtigen diesen Zustand ebenso wie das Vorhandensein einer festen Beziehung an eine Bezugsperson. Leider sind bekanntermaßen 25 – 30 % unserer Kinder unsicher ambivalent gebunden. Die gelungene Bindung stellt unseres Erachtens eine Art „Impfung“ dar, die vor der Widrigkeiten des Lebens schützt und bei der Bewältigung von Krisen unterstützt.

Es lässt sich unschwer erkennen, dass es sich überwiegend um Krankheitsbilder handelt, die überwiegend als Reaktionen anzusehen sind, hervorgerufen durch das Umfeld der Kinder, für das die Eltern bzw. die Familie als verantwortliche Erziehungsberechtigte Ausgangspunkt sind. (Abbildung 1)

Die Erkrankung des Kindes könnte als Hilfe-Ruf nach Übernahme und Verantwortung durch die Erwachsenen verstanden werden.

In  unserem nächsten Beitrag erhalten Sie Wissenswertes über das Alleinstellungsmerkmal des Facharztes für Psychosomatische Medizin.